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Fibromyalgie

Leben unter Schmerzen

Von FOCUS-Online-Autorin Dr. Anette Huesmann

Zwölf verschiedene Ärzte und eine rund elf Jahre dauernde Schmerzkarriere haben Betroffene im Schnitt hinter sich, bis ein Arzt die richtige Diagnose stellt: Fibromyalgie. Die Ursachen dieser unheilbaren Krankheit sind bis heute nicht bekannt, eine individuelle Therapie ermöglicht jedoch den meisten Betroffenen ein fast normales Leben.

 (www.fibromyalgie-forum.de)

Bis zu 100 Krankheitszeichen

Rund 1,6 Millionen Deutsch leiden unter Fibromyalgie, 90 Prozent sind Frauen.

"Es ist bis heute unklar, ob es sich bei den Symptomen um eine einheitliche Krankheit handelt", schildert Dieter Pongratz das Problem. Er ist leitender Arzt des Friedrich-Baur-Instituts der Neurologischen Klinik und Poliklinik der Ludwig-Maximilians-Universität München. Anfang des 20. Jahrhunderts beschrieben Ärzte die Symptome der Erkrankung zum ersten Mal. Doch erst als im Jahr 1990 die amerikanische Gesellschaft für Rheuma Kriterien für die Diagnose entwickelte, ist die Fibromyalgie als eigenständige Krankheit anerkannt und nehmen Ärzte sie wirklich ernst.

Die Rheumatologen unterscheiden zwischen entzündlichen und degenerativen Rheumaerkrankungen (Arthrosen) sowie Weichteilrheumatismus, der Knorpel und Bindegewebe betrifft. Fibromyalgie gehört zu einer Gruppe von Erkrankungen, die unter dem Oberbegriff Weichteilrheumatismus zusammengefasst werden. Manche Wissenschaftler widersprechen dieser Zuordnung und sehen Fibromyalgie als Krankheit, die mit rheumatischen Erkrankungen nicht vergleichbar ist.

Rund 1,6 Millionen Deutsche leiden unter Fibromyalgie, etwa 90 Prozent davon sind weiblich. Am häufigsten erkranken Frauen zwischen 20 und 50, meist beginnt die Krankheit um das 35. Lebensjahr. Aber auch Kinder ab vier Jahren und Senioren über 65 erkranken häufiger als die durchschnittliche Bevölkerung.

Die wichtigsten Symptome der Erkrankung sind starke Schmerzen vor allem der Muskeln und der Sehnenansätze. Doch es kommen viele weitere hinzu, manche Ärzte sprechen von bis zu 100 Symptomen. Die Betroffenen nennen am häufigsten:

Oft erkennen Ärzte eine Fibromyalgie zu spät, meist ist sie dann bereits chronisch. Die Patienten haben mit ganz unterschiedlichen Ausprägungen der Krankheit zu kämpfen. Bei manchen bleiben die ständigen Schmerzen erträglich, andere werden arbeitsunfähig oder sogar pflegebedürftig.

 

 

Ausschluss anderer Erkrankungen

Rund 1,6 Millionen Deutsch leiden unter Fibromyalgie, 90 Prozent sind Frauen Die Diagnose der Fibromyalgie ist schwierig: Röntgenbilder geben keine Hinweise und Blutuntersuchungen zeigen keine Auffälligkeiten, z. B. Entzündungsmarker. Die zahlreichen unterschiedlichen Symptome erschweren es den Ärzten zudem, denn ein Großteil ist auch Merkmal anderer Erkrankungen.

"Fibromyalgie wird anhand der Kriterien der amerikanischen Gesellschaft für Rheuma diagnostiziert, aber vor allem durch den Ausschluss anderer Krankheiten", erläutert der Neurologe Dieter Pongratz. Besteht erst einmal der Verdacht auf die Schmerzerkrankung, genügen einem erfahrenen Arzt meist eine einfache körperliche Untersuchung und ein Gespräch mit dem Patienten.

Kriterien zur Diagnose wurden 1990 entwickelt. Die Diagnosekriterien der amerikanischen Gesellschaft für Rheuma beziehen sich auf 18 Sehnenansätze des Körpers, den so genannten Tender Points. Diese Druckpunkte liegen im Nacken, an Rücken, Schultern sowie den Hüften. Für die Diagnose Fibromyalgie müssen von diesen 18 Druckpunkten elf über einen Zeitraum von mindestens drei Monaten bereits auf leichten Druck schmerzhaft reagieren.

Dabei sind die schmerzenden Stellen im Körper nicht entzündet, das Gewebe bleibt unverändert und wird nicht zerstört, wie es oft durch rheumatische Erkrankungen der Fall ist. Bewegungseinschränkungen sind vor allem auf die Schmerzen zurückzuführen.

 

 

Andere Erkrankungen ausschließen

Alle weiteren Untersuchungen der Mediziner dienen vor allem dazu, andere Erkrankungen auszuschließen, wie zum Beispiel:

 

 

Ursachen

Besonders der Ursprung der Schmerzen hat vielen Wissenschaftlern Rätsel aufgegeben. In den vergangenen Jahren haben jedoch neue Forschungsansätze mögliche Erklärungen geliefert. Zum einen fanden sich Hinweise darauf, dass die Veranlagung für Fibromyalgie erblich ist. Die Erkrankung kommt in manchen Familien gehäuft vor, was diese These stärkt. Auch Umweltfaktoren beeinflussen die Wahrscheinlichkeit, an Fibromyalgie zu erkranken. Insbesondere traumatische Erlebnisse während der Kindheit erhöhen das Risiko.

"Eine erbliche Veranlagung in Verbindung mit traumatischen Erlebnissen während der Kindheit ist für mich derzeit die einleuchtendste Erklärung für die Entstehung der Krankheit", erklärt der Neurologe Dieter Pongratz das Ergebnis seiner langjährigen Forschungsarbeit.

 

Veränderte Schmerzwahrnehmung

Schmerzforscher gehen heute davon aus, dass nicht die Muskeln und Sehnen die Beschwerden auslösen, sondern das Nervensystem. Studien haben eine veränderte Schmerzwahrnehmung der Betroffenen nachgewiesen. So liegen die Gehirnbotenstoffe Serotonin und Tryptophan in geringerer Konzentration vor. Gleichzeitig ist eine zu hohe Menge der so genannten Schmerzsubstanz P vorhanden, ein Botenstoff, der Schmerzsignale überträgt. Es ist jedoch nicht eindeutig nachweisbar, ob diese Veränderungen Ursache oder Folge der Krankheit sind.

Einige Mediziner glauben, dass eine Verletzung die Erkrankung auslöst, zum Beispiel ein Bandscheibenvorfall, ein Schleudertrauma oder auch eine Operation. Das könnte die Ursache dafür sein, dass sich die Schmerzwahrnehmung des Gehirns verändert.

 

Beeinträchtigung des Muskelstoffwechsels

Forscher konnten nachweisen, dass Veränderungen im Muskelstoffwechsel wie Mangeldurchblutung oder Unterversorgung mit Sauerstoff Begleiterscheinungen einer Fibromyalgie sind. Unklar bleibt jedoch, ob diese Symptome Ursache oder Folge der Krankheit sind. Andere Wissenschaftler dagegen glauben an eine Infektion als Ursache, doch bisher konnten sie keinen Virus nachweisen, der Fibromyalgie auslöst.

Psychosomatik

Je häufiger Wissenschaftler Ursachen wie eine veränderte Schmerzwahrnehmung und eine vererbte Veranlagung diskutieren, desto mehr verlieren rein psychosomatische Erklärungsmodelle an Bedeutung. Trotzdem verändern sich natürlich wie bei vielen anderen Krankheiten auch die Beschwerden unter psychischer Belastung. Mentaler Stress, Angst und Ermüdung verstärken die Symptome. Besonders die Qualität der Nachtruhe beeinflusst die Erkrankung. Die Betroffenen schlafen meist schlecht oder wachen morgens gerädert auf. Häufig fehlen ihnen die Tiefschlafphasen. Verbessern Medikamente ihren Schlaf, so bessern sich meist auch die Symptome.

 

 

Eine individuelle Behandlung hilft

Fibromyalgie ist nicht heilbar. Da die Ursachen bis heute nicht bekannt sind, kann eine Therapie sie nicht bekämpfen. Doch sie kann die Symptome der Krankheit lindern und so die Lebensqualität deutlich verbessern. Die quälendsten Symptome der Fibromyalgie sind die Schmerzen. Deshalb kann eine so genannte multimodale Schmerztherapie den Betroffenen am besten helfen.

Für eine multimodale Therapie kommen mehrere ganz unterschiedliche Behandlungsarten zum Einsatz. Vor allem die Kombination von Medikamenten, physikalischer Therapie, Psychotherapie und Selbsthilfestrategien verhilft vielen Betroffenen zu einem relativ normalen Leben.

Von den Ärzten fühlen sich viele Patienten im Stich gelassen. "Wir sind für die Ärzte ein Problem", sagt Brigitte Saxen, die seit 15 Jahren an Fibromyalgie leidet, "weil wir ihr Budget sprengen. Die meisten wollen uns ein Medikament verschreiben, aber keine physikalische Therapie." Aus Schilderungen der Mitglieder ihrer Selbsthilfegruppe weiß die 57-Jährige, dass es vielen nach vier Wochen Behandlung in einer Klinik sehr gut geht. "Dort bekommen sie alle notwenigen Behandlungen", erzählt sie nüchtern, "aber die niedergelassenen Ärzte verschreiben sie nicht immer wieder aufs Neue. Und dann werden die Schmerzen wieder stärker."

Die Komponenten der Therapie

Je nach Schwere der Symptome, Individualität und Lebensstil der Einzelnen sind es häufig ganz unterschiedliche Therapieformen, die zum Erfolg führen. Doch können selbst regelmäßige Behandlung die Schmerzen nicht gänzlich beseitigen, aber auf ein erträgliches Maß reduzieren.

Medikamente

Antidepressiva können die Beschwerden von etwa 30 bis 40 Prozent der Patienten lindern. Sie schlafen besser und sind entspannter, was sich insgesamt positiv auf die Krankheit auswirkt. Deutsche Ärzte verordnen zurzeit vor allem Amitriptylin (trizyklisches Antidepressiva). Positive Studienergebnisse gibt es auch zum Schmerzmittel Tramadol, ansonsten zeigen Schmerzmittel und Rheumamittel oft wenig oder keine Wirkung. Dagegen gibt es erste positive Erfahrungen mit Medikamenten gegen Epilepsie wie Pregabalin. "Die Kombination aus zwei Medikamenten mit verschiedenen Wirkstoffen ist vielversprechend", erklärt Neurologe Dieter Pongratz, "doch bisher gibt es dazu noch keine wissenschaftlichen Untersuchungen."

Physikalische Therapien

Die Betroffenen sprechen sehr unterschiedlich auf die verschiedenen physikalischen Therapien an. Manchen hilft Wärme, anderen Kälte. Feuchtigkeit scheint die Krankheit eher zu verstärken.

Wärmebehandlungen

Kältebehandlungen

Elektrotherapie

Sonstige

Komplementäre Heilverfahren

Entspannungstechniken

Alle Verfahren, die eine Entspannung zur Folge haben, können zur Linderung der Schmerzen beitragen. Entspannend wirken zum Beispiel:

Gleichmäßiger Ausdauersport

Insbesondere gleichmäßiger Ausdauersport kann die Schmerzen der Betroffenen deutlich lindern. Die Bewegungen sollten nicht so sehr mit Kraft, sondern ruhig und lang anhaltend durchgeführt werden. Betroffene, deren Krankheit bereits chronisch ist und die unter Bewegungseinschränkungen leiden, sollten mithilfe von Krankengymnastik vorsichtig und individuell ihre körperliche Beweglichkeit zurück erlangen. Hilfreich sind alle Ausdauersportarten wie:

Psychotherapeutische Betreuung

Eine psychotherapeutische Unterstützung kann einen wichtigen Beitrag zur Krankheitsbewältigung leisten. Es sind verschiedenen Arten der Unterstützung möglich, beispielsweise:

Selbsthilfestrategien

Jeder Fibromyalgie-Patient muss einen eigenen Weg finden, um mit der Krankheit fertig zu werden. Viele empfinden es als Erleichterung, wenn sie sich umfassend über die Krankheit informieren durch Bücher oder über das Internet. Auch in Selbsthilfeorganisationen finden Erkrankte wichtige Unterstützung, z. B. in Selbsthilfegruppen. Außerdem verarbeiten viele die eigenen Erfahrungen und ihre Hilflosigkeit angesichts der Schmerzen besser, wenn sie spüren, dass sie nicht allein sind mit diesem Problem und andere bereits einen Weg gefunden haben, mit der Krankheit fertig zu werden.

Operationen

Sehr umstritten sind operative Eingriffe. Dabei werden Verdickungen und Verklebungen an den Tender Points entfernt. Manche Mediziner berichten von Erfolgen dieser operativen Behandlung, andere sind skeptisch.

 

 

Schmerzen vermeiden

Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass in manchen Familien Fibromyalgie häufiger auftritt als in anderen. Außerdem sind Menschen stärker gefährdet, die in ihrer Kindheit traumatische Ereignisse erlebt haben. Risikopatienten können den Ausbruch der Krankheit verhindern, indem sie Schmerzen egal welcher Art vermeiden und immer auf eine ausreichende Schmerzversorgung bestehen. Das gilt für alle Schmerzen, egal ob es sich um Rückenschmerzen handelt, um Schmerzen nach einer Operation oder nach einem Unfall. Die moderne Schmerztherapie geht heute davon aus, dass unser Gehirn sich Schmerzen regelrecht merkt. Hat ein Gehirn bereits mehrfach Schmerz erfahren, so entsteht das so genannte Schmerzgedächtnis. Dann reagiert es empfindlicher auf äußere Reize wie Dehnung oder Druck als zuvor. Das könnte zum Ausbruch der Krankheit führen.