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Hinweis zu Bild 1252c: Handschriftliche Notiz von Dr.Pantke:
"Lieber Herr Doktor, da ich mich z.Z. nur schlecht verbal äußern kann, jedoch
im Vollbesitz meines Willens bin, gebe ich folgende Erklärung ab: Mir geht es hier sehr
gut, und ich möchte hier bleiben, bis ich wieder gehen kann. Sie haben mir den ersten
Schritt aus der Hölle gewiesen, weitere werden folgen..." |
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Patientenschicksal "Locked-in-Syndrom" "Ich war bei vollem Bewußtsein, konnte aber keinerlei
Kontakt mit der Außenwelt aufnehmen. Ich war Gefangener meines eigenen Körpers"
Interview übers "Jenseits von gut und böse"
Gerade als er bei der Steuerklärung grübelt, im März
1995, erleidet der 39jährige Dr. Karl-Heinz Pantke, Diplom-Physiker und Experte für
Kurzzeitphysik, einen Stammhirninfarkt - eine besonders schwere Form des Schlaganfalls,
den die meisten Menschen nicht überleben. Dr. Pantke wird Stunden später von seiner
Lebensgefährtin gefunden - die herbeigerufenen Sanitäter erklären ihn für tot, was er
bei vollem Bewußtsein miterlebt. In der Klinik wird später das sogenannte
Locked-in-Syndrom diagnostiziert. Die Erkrankung führt zu einer völligen Lähmung, der
Patient muß künstlich ernährt und beatmet werden. Patienten mit Locked-in-Syndrom sind
im eignen Körper "eingesperrt"(engl. Locked-in), sie können sich nicht
selbständig bemerkbar machen - daher wurden sie früher für bewußt- und emotionslos
gehalten - ein entsetzlicher Irrtum! Die älteste Beschreibung findet sich in "Der
Graf in Monte Christo" von Alexander Dumas: Monsieur Noirtier de Villefort wird dort
als "Leichnam mit den lebenden Augen" beschrieben...
Dr. Pantke hat nach 3 1/2 Jahren schwerster Krankheit ein Buch geschrieben. Anläßlich
der bevorstehenden Veröffentlichung haben wir uns mit Dr. Pantke unterhalten...
gesundheit-online: Dr. Pantke, Ihr Patientenschicksal ist für Laien
gleichermaßen wie für Fachleute und Ärzte eine tatsächlich unglaubliche Begebenheit -
wie geht es Ihnen zur Zeit?
Dr.Pantke: Es geht mir gut, weil ich froh bin, noch am Leben zu sein. Auch weiß
ich von anderen Patienten, die erst nach Jahren oder sogar nie die Locked-in-Phase
verlassen. Ich weiß die positive Wendung der Erkrankung natürlich zu schätzen. Aber
richtig Freude kommt nicht auf bei jemanden, der gerade der Hölle entkommen ist.
Irgendwie haftet das Vergangene an einem.
Ich habe den Krankheitsverlauf, es sei denn hinsichtlich meines Buchprojekts, weitgehend
verdrängt. Wenn einem Menschen etwas schreckliches passiert, ist es manchmal das Beste
nicht zurückzublicken oder sich umzudrehen. Diese Weisheit ist sehr alt. Denken Sie an
die Geschichte aus der Bibel, als Lots Frau zu einer Salzsäule erstarrt, während Sie
sich umdreht. Dreh dich nicht um. Schau nicht zurück. Der Blick zurück läßt die
Vergangenheit rosiger erscheinen als sie war, aber das Schreckliche ist so schrecklich,
daß jeder Rückblick Qualen verursacht.
gesundheit-online: Wie konnte in Ihrem Fall die richtige Diagnose gestellt
werden, welche Anzeichen von Ihnen gaben Hinweise auf das Locked-in-Syndrom?
Dr.Pantke: Zunächst muß gesagt werden, daß die Erkrankung überaus selten ist.
Direkt nach dem Infarkt war ich zu keinem Lebenszeichen fähig. Meine Atmung und mein Puls
müssen extrem flach gewesen sein. Nicht ohne Grund wurde ich von den Sanitätern für
"tot" erklärt. Ich frage mich seit dem, ob ein "und Exitus" wirklich
das letzte sein wird, was ich hören werde, bevor ich vor meinen Schöpfer trete. Zu
diesem Zeitpunkt ist Unterscheidung aufgrund von äußeren Merkmalen zwischen Locked-In
und einem hirntoten Patienten selbst für Experten unmöglich. Eine exakte Diagnose ist
nur möglich, falls die Aktivitäten direkt im Gehirn gemessen werden. Das ist nur mit
modernster Technik möglich. Solche Untersuchungen wurden mit mir durchgeführt.
gesundheit-online: Als Diplom-Physiker und Experte für Kurzzeitphysik haben
Sie Ihr größtes "Langzeit"-Experiment vollbracht - eine 3 1/2 Jahre währende
Rückkehr in ein humanes Leben: Es ist Ihnen geglückt. Sie mußten und wollten sich mit
der ureigensten Grenze befassen - der Grenze zwischen diesseits und jenseits, zwischen
Traum, Schein und Realität. Sie sprechen auch sehr eindrucksvoll vom Verlassen aus dem
eigenen Körper, eine Schilderung, die sich auch immer wieder in Berichten von
Nahtoderfahrungen wiederholt. Erlauben Ihre Erlebnisse eine veränderte Betrachtungsweise
zur Dimension Zeit, genügen Ihrer Meinung nach die gültigen naturwissenschaftlichen
Definitionen für Zeit und Raum?
Dr.Pantke: Für den Wissenschaftler haben sich die Betrachtungsweise von Raum und
Zeit nicht geändert. Wissenschaft ist immer einem objektiven Maßstab unterworfen. Wenn
ich mich mit einem Kollegen über ein Experiment unterhalte, kann dieser sofort
nachprüfen, ob ich die Wahrheit oder Unsinn erzähle. Um dies zu entscheiden, bräuchte
er nur das Experiment zu wiederholen. Selbst den eigenen Tod vor Augen, konnten mein
wissenschaftliches Verständnis von Raum und Zeit nicht ändern.
Grundlegend geändert hat sich jedoch mein Gefühl für Raum und Zeit. Die Erkrankung
zeigt mir, daß jede Zeit - so schlimm sie auch sein mag - irgendwann vorüber ist. Die
Erkrankung dauert jetzt 3 1/2 Jahre. Die Zeitspanne kommt mir sehr kurz und gleichzeitig
sehr lang vor. Kurz deshalb, weil während dieser Zeit außer krank sein etwas
Entscheidendes passiert ist. Lang deshalb, weil ich während dieser Zeit Erfahrungen
gesammelt habe, die die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben nicht sammeln. Geändert
hat sich auch das Gefühl für Raum. Ich unterscheide jetzt zwischen Reisen, die mit einem
Ortswechsel verbunden sind und Reisen, die möglich sind, ohne das der Reisende auch nur
einen Millimeter fortbewegt.
Ihre Fragestellung schließt irgendwie ein, daß durch den gegenwärtigen Stand der
Wissenschaft eine umfassende Beschreibung der Natur möglich ist. Ich habe da meine
Zweifel. Das soll nicht heißen, daß das überhaupt nicht möglich ist. Ich erwarte für
die nächsten Generationen ein Umdenken bei der Beschreibung durch die Wissenschaft, das
unser Weltbild umfassend ändern wird.
gesundheit-online: Der Zustand Locked-in bedeutet "Gefangen im eigenen
Körper, bei nahezu vollem Verstand". Müßte einen diese Odyssee vergleichbar mit
der Ihrigen nicht in den Wahnsinn treiben?
Dr.Pantke: Vor der Krankheit hätte ich "ja" geantwortet. Jetzt antworte
ich "nein". Außer seiner Intelligenz zeichnet sich der Mensch durch seine
Anpassungsfähigkeit aus. Diese Eigenschaft haben wir mit den Ratten und den Bakterien
gemeinsam. Diese Anpassungsfähigkeit ermöglicht es uns auch unter extremen Bedingungen
weiter zu leben ohne wahnsinnig zu werden. Ich bin davon überzeugt, das eine
Naturkatastrophe oder ein nuklearer Abschlag nicht das Ende des Menschen bedeuten würde.
Wir würden einfach unsere gegenwärtige Entwicklungsstufe verlassen. Anstatt in Häuser
aus Stein würde der Mensch in Erdlöchern wohnen.
gesundheit-online: In der Beschreibung Ihres Dämmerzustands in der ersten
Zeit setzte sich die Erkenntnis eines Defizits durch - kann man dies als ersten,
maßgeblichen Schritt zur Genesung betrachten? Ist gegebenenfalls nicht auch die
Selbstaufgabe naheliegend? Welche Hilfen von der "Außenwelt" würden Sie
vergleichbaren Locked-in-Patienten wünschen?
Dr.Pantke: Die erste Frage ist sehr schwer zu beantworten, weil ich natürlich nur
für mich reden kann. Bei mir wurden die Drogen recht früh abgesetzt. Das hat dazu
geführt, daß mir überhaupt erst klar wurde, was mit meinem Körper los ist. Das kann
als erster Schritt zur Genesung betrachtet werden. Notwendig, aber leider nicht
hinreichend zur Genesung ist eine unglaubliche Härte gegen sich selbst. Man muß
praktisch jeden Tag einen Sieg über sich erringen.
In einer solchen Extremsituation kann der Mensch unglaubliche Kräfte entfalten. Ich
wundere mich über mich selbst: Wie konnte ich diese Zeit durchleben? Extreme Situationen
lassen den Menschen über sich selbst wachsen. Eine Selbstaufgabe ist absolut
auszuschließen.
Zunächst wünsche ich anderen Locked-in-Patienten, daß sie als solche erkannte werden.
Der Fall einer Locked-in-Patientin, die sechs Jahre für hirntot gehalten wurde, ist so
schrecklich, daß er erwähnt werden muß. Die Frau muß unglaubliches durchgemacht haben.
Nachdem Locked-in-Patienten als solche erkannt sind, wünsche ich mir, daß sie so
behandelt werden, daß ihre völlig intakten Sinne nicht auch noch verkümmern. Es muß
versucht werden, den Patienten aus seiner Einsamkeit herauszuholen. Ich halte es für sehr
wichtig, den Patienten häufig anzufassen, sein Tastsinn ist nicht beeinträchtigt. gesundheit-online:
Der Locked-in Patient ist unter Umständen gänzlich seiner Kommunikationsmöglichkeiten
beraubt. In einem Jahr werden das zurückliegende Jahrhundert und der anstehende
Jahrtausendwechsel pünktlich als Kommunikationszeitalter in die Annalen eingehen.
Bedeuten Ihrer Ansicht nach die technischen Möglichkeiten eine grundsätzliche Chance
für vergleichbare Patientenschicksale, oder ist der moderne Mensch zu
kommunikationslastig, zu "technisch" geworden - er übersieht schlichtweg
Signale, die über Jahrtausende Basis der zwischenmenschlichen Kommunikation waren?
Dr.Pantke: Zunächst muß gesagt werden, daß Patienten mit dieser Diagnose erst
eine Überlebenschance haben, seit es die technischen Möglichkeiten gibt. In der
"guten alten Zeit" oder in einem Land der 3. Welt wäre für einen
Locked-in-Patienten qualvolles Verdursten und Verhungern die Folge. So gesehen gäbe es
kein "oder" in Ihrer Fragestellung. Ich wäre jedoch extrem kurzsichtig, würde
ich nicht auf Ihre Bedenken eingehen. Leider neigt der Mensch dazu, einer komplexen
Apparatur mehr Glauben zu schenken als seinem Verstand. Die Aussage, daß der moderne
Mensch zu "technisch" geworden ist, bedeutet für mich, daß zukünftige
Generationen von Technik so gestaltet sein muß, daß der Mensch wieder mehr in den
Mittelpunkt rückt.
Nicht die Maschine beherrscht den Menschen, sondern der Mensch die Maschine. Eine Maschine
z. B. ein Computer ist unschlagbar, wenn Rechnungen ausgeführt werden. Andererseits ist
der Mensch unschlagbar, wenn es darum geht eine Entscheidung zu treffen, die mehr als
simple Arithmetik ist. Die Grenze zwischen beiden Bereichen darf nicht aufgeweicht werden,
soll es gelingen, die noch mangelhafte Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine zu
verbessern. Der Mensch und die Maschine arbeiten in völlig unterschiedlichen Bereichen.
Vom Ansatzpunkt, die Überlebenschancen des Menschen mit einem Computer abzuschätzen,
halte ich überhaupt nichts.
gesundheit-online: Zu den Urängsten des Menschen zählt die Todeserklärung
bei vollem Verstand, wie auch in Ihrem Fall geschehen durch die Sanitäter angesichts der
Diagnose nach dem Schlaganfall. Sie sind dann doch nicht im Leichenschauhaus gelandet.
Haben Sie Hoffnung, daß in der Zukunft Meßgeräte dermaßen sensibilisiert werden, die
denkbar schwache Signale wie die des "verstandesmäßigen Denkens" bei
Locked-in-Patienten registrieren könnten und nicht erst mechanische Signale wie z.B.
Augenflackern erfordern...
Dr.Pantke: In gewisser Weise ist das heutzutage schon möglich. Soweit ich mich
richtig erinnere, können einzelne Gedanken im Gehirn sichtbar und lokalisiert werden.
Inwieweit einzelne Gedanken bei Locked-in-Patienten angestellt wurden, weiß ich nicht.
Viel interessanter fände ich die Fragestellung, ob andere Menschen in der Lage sind, die
schwachen Signale eines Locked-in-Patienten zu empfangen. Aus meiner eigenen
Krankheitsgeschichte muß ich mit "ja" antworten. Leider kann ich keinen
wissenschaftlichen Beweis für meine Behauptung liefern. Ich möchte deshalb nicht
irgendwie metaphysisch mißinterpretiert werden. Ich halte einen Vorgang, der bei einer
komplizierte Apparatur möglich ist, auch für den Menschen für möglich, auch wenn wir
uns z. Z. nicht vorstellen können, welcher Art diese Kommunikation zwischen Menschen sein
soll.
gesundheit-online: Wie lautet Ihre Botschaft an akute Locked-in-Patienten,
wenn diese augenblicklich in der Lage wären, diese Zeilen lesen zu können?
Dr.Pantke: Es kann sein, daß sie kein Vertrauen in die Selbstheilungskräfte ihres
Körpers haben. Während der letzten 2-3 Jahre hat ein umfassendes Umdenken in der
Neurologie stattgefunden. Selbst die sehr alte Lehrmeinung "Nervenzellen wachsen
nicht nach" wurde widerlegt. Ich erwarte, daß es in Zukunft ein Medikament geben
wird, daß Nervenzellen zum Wachstum stimuliert. Diese Medikament wäre zwar nicht
speziell für Locked-in-Patienten entwickelt, aber diese könnten hiermit behandelt
werden.
gesundheit-online: In Ihrem Buch beschreiben Sie einen traumähnlichen
Zustand, einen zunehmenden Realitätsverlust in einem Traumland, dennoch mit einem
schrecklichen Verdacht im Unterbewußtsein. Haben Sie heute manchmal noch das Gefühl,
einen langen, schrecklichen Alptraum erlebt zu haben, in dem Sie sich gewünscht haben,
ganz schnell wieder aufzuwachen?
Dr.Pantke: Genau das Gefühl habe ich. Außerdem ist etwas merkwürdiges passiert.
Seit ich krank bin, habe ich keinen einzigen Alptraum gehabt. Ich nehme an, daß das
Erlebte so schrecklich ist, das selbst ein Alptraum mir keinen Schrecken einjagen kann.
gesundheit-online: Ihr Buch besitzt eine ungewöhnliche
Entstehungsgeschichte. Können Sie hierzu etwas sagen? Dr.Pantke: Ich habe während
meiner Krankheit Rundbriefe geschrieben, die an Freude und Bekannte verteilt wurden. Diese
Rundbriefe habe ich zu einem Buch verarbeitet. Ich hoffe so den Leser an der Entwicklung
der Krankheit teilhaben zu können. Beschrieben werden dadurch die ersten drei Jahre nach
dem Infarkt.
gesundheit-online: Wir bedanken uns für die freundliche Auskunft und
wünschen für die Zukunft alles gute.
Text: Das Interview führte Andreas Frädrich (Redaktionsdienst gesundheit-online.de)
Literaturhinweis: "Locked-in
- Gefangen im eigenen Körper", ca. 90 Seiten, ca. 25,--DM, ISBN3-933050-08-1,
erscheint voraussichtlich im Dezember 1998 im Mabuse-Verlag, Frankfurt/Main
Kontakt: Für weitere Informationen steht Herr Dr. Pantke als Ansprechpartner gerne zur
Verfügung: Redaktionsdienst, Postfach 25 04 51, D-90129 Nürnberg
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