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Interview mit Dr. Hans Jürgen Ahrens, Vorsitzender des Bundesvorstands der AOK
Frage: Herr Dr. Ahrens, im BIRKENBLATT Nr. 9 attackieren Eckard Arens und Weinfried
Gutmann vom Caritasverband Wuppertal die Krankenkassen heftig: Die derzeitige
Vergütungspolitik, so die beiden Autoren, laufe den hohen Anforderungen an eine
qualitativ gute und sichere Pflege völlig zuwider. Und weiter: Die ambulanten
Pflegedienste erfahren in den letzten Monaten die Vergütungspolitik der Kranken- und
Pflegekassen hauptsächlich durch eine ständige Senkung der Gebührensätze. Sind
die Vergütungsvereinbarungen ihrer Ansicht nach noch fair im Sinne einer guten
Pflegequalität?
Dr. Ahrens: Die AOK hat sich in den letzten Jahren verstärkt dafür eingesetzt - und dies
mit Erfolg - daß Qualitätsanforderungen für die Erbringung von Pflegeleistungen in den
Verträgen mit den Pflegediensten verankert wurden. Zur Zeit werden auf Bundesebene
Verhandlungen zwischen den Krankenkassen und den Pflegeverbänden geführt, mit dem Ziel,
auch für die häusliche Krankenpflege einheitliche Qualitätsmaßstäbe und eine
einheitliche, aus medizinisch-pflegerischer Sicht sinnvolle Beschreibung der Leistungen zu
vereinbaren. Den Kassen geht es nicht darum, wie in dem Artikel behauptet wird, ihre
gesetzlich vorgeschriebenen Krankenkassenleistungen zu reduzieren oder Leistungen
auszugrenzen, sondern darum, daß der Versicherte die im Einzelfall erforderliche und
fachlich kompetente Pflege zu wirtschaftlich vertretbaren Bedingungen erhält. über die
Umsetzung des im Gesetz enthaltenen Wirtschaftlichkeitsgebots bestehen jedoch zwischen den
Pflegediensten und den Kassen nicht selten unterschiedliche Auffassungen. In den
Verhandlungen haben als gleichberechtigte Partner die Pflegedienste und die Kassen die
unter Umständen schwierige Aufgabe, für beide Seiten einen akzeptablen Kompromiß
auszuhandeln und damit einen Vertragsabschluß zu erzielen. Für die Kassen ist
entscheidend, daß die vertraglichen Regelungen einerseits eine gute Versorgung ihrer
Versicherten gewährleisten und andererseits aber auch die Kosten in Grenzen halten, um
eine nicht vertretbare weitere Belastung ihrer Beitragszahler - und damit der
Solidargemeinschaft - zu vermeiden. Vergütungsverhandlungen sind mit dem Ziel zu führen,
leistungsgerechte Preise zu vereinbaren und nicht primär das Einkommen der Pflegedienste
zu sichern.
Frage: Die Autoren bemängeln weiterhin, daß auch kleinste und intimste
Pflegetätigkeiten seit dem vorigen Jahr wie mit der Stoppuhr gemessen vorgenommen werden
müssen, um die Zeitvorgaben einhalten zu können. Ist das Modulsystem der Pflegekassen
tatsächlich das optimale Abrechnungssystem?
Dr. Ahrens: Ich freue mich, daß ich mit dieser Frage Gelegenheit habe, auf eine leider
weit verbreitete Fehlinterpretation des Modulsystems antworten zu können. Die Autoren in
dem o. g. Artikel gehen nämlich auch noch einen Schritt weiter und stellen einen
Gegensatz zwischen ganzheitlicher Pflege und dem Modulsystem her. Wir haben im Gegenteil
mit dem Modulsystem das Leistungsspektrum der Pflegeversicherung so zusammengefaßt wie
die Leistungen im Pflegeprozeß im Sinne einer ganzheitlichen Pflege sinnvollerweise
zusammen erbracht werden. Die nicht selten unter finanziellen Aspekten geforderte
Aufteilung in Einzelleistungen wird aus unserer Sicht der Situation der Pflegebedürftigen
nicht gerecht. So erhält beispielsweise das Modul Morgentoilette die
Leistungen, die normalerweise im Zusammenhang mit der morgendlichen Körperpflege
erforderlich sind, also nicht nur das Waschen und Zähneputzen, sondern auch das Kämmen/
Rasieren und das Anziehen. Die Leistungen, die zu einem Modul gehören, sind im einzelnen
beschrieben. Dies ist aus unserer Sicht deshalb wichtig, weil damit das Leistungsspektrum
deutlich wird und der Pflegebedürftige entscheiden kann, welche Leistungen der
Pflegedienst für ihn erbringen soll und welche die Familie oder die Nachbarin für ihn
übernimmt. Ziel dieses Systems ist somit, einerseits dem Versicherten die Wahl der
Leistung zu eröffnen, andererseits aber auch Transparenz zu schaffen über das, was die
Pflegedienste erbringen und dann mit der Pflegekasse abrechnen.
Frage: Die Gesamtbedürftigkeit des kranken Menschen wird bei der Pflegeversicherung
bedingt durch das Modulsystem, nicht oder nur unzureichend berücksichtigt. Könnte es
nicht sein, daß dadurch der kranke Mensch häufiger in stationäre Einrichtungen
eingewiesen werden muß (sogenannter Drehtüreffekt)?
Dr. Ahrens: Das Modulsystem beinhaltet das mit dem Pflege-Versicherungsgesetz gesetzlich
festgeschriebene Leistungsspektrum. Sicherlich ist es wichtig, wie die Autoren in ihrem
Bericht schreiben, etwas mehr Zeit für ein Gespräch zu haben und sich
um kleine Alltagsprobleme kümmern zu können, beispielsweise dem Pflegebedürftigen
auch beim Briefeschreiben behilflich zu sein. Diese Leistung sieht das
Pflege-Versicherungsgesetz allerdings nicht vor und es ist fraglich, ob solche Leistungen
durch eine solidarisch finanzierte Sozialversicherung getragen werden könnten. Die
Pflegeversicherung ist keine Vollkaskoversicherung. Die Leistungen der Pflegeversicherung
sollen das soziale Umfeld entlasten, können es aber keineswegs ersetzen.
Frage: In den nächsten Jahren wird es noch einmal eine Milliardenspritze des
AOK-Bundesverbandes an die Berliner AOK geben. Wie lange noch könnte die Berliner AOK
bezuschußt werden? Kann Berlin überhaupt in absehbarer Zukunft ohne Zuschüsse
auskommen?
Dr. Ahrens: Die gesetzlichen Krankenkassen haben jetzt mit dem Berliner Senat eine
Vereinbarung getroffen, mit der die Gesundheitsversorgung in Berlin wirtschaftlicher
gestaltet werden soll. Gemeinsam mit dem Senat arbeiten alle gesetzlichen Krankenkassen
jetzt an der Umsetzung dieser Vereinbarung, die vor allem im Krankenhausbereich Effizienz
bringen soll. Durch diese Reformen soll die medizinische Versorgung in Berlin an die
Strukturen vergleichbarer deutscher Großstädte angeglichen werden. Wenn diese Maßnahmen
gelingen, dann wird Berlin mittelfristig auch ohne Unterstützung aus ganz Deutschland
angemessene Beitragssätze für ausgezeichnete Gesundheitsversorgung bieten können. Text: Werner Jahnke und Volker Hütte
Das Interview wurde in der Berliner Zeitschrift
"Birkenblatt Nr.10" publiziert.
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