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siehe auch:
Mensch&Pferd 10-Gesundheit
2222 Das Pferd im Dienste behinderter Menschen:
Therapeutisches Reiten
Schon in vergangenen Jahrhunderten befassten sich
Ärzte mit den Wirkungen des Reitens - genauer: des Bewegtwerdens auf dem Pferderücken -
auf den menschlichen Körper. Gross ist die Zahl der Veröffentlichungen über das Reiten
als Heil- und Behandlungsmassnahme für so manches Leiden des Leibes und der Seele (allein
in einem deutschen, umfassenden Literaturverzeichnis über 700!). Systematisch und
wissenschaftlich beschäftigte man sich allerdings erst seit den letzten Jahrzehnten mit
den Möglichkeiten, die das Pferd im Dienste behinderter und kranker Menschen zu bieten
hat.
1961 berichtete, erstmals in Deutschland, ein süddeutscher Arzt in einem Artikel
"Gymnastik zu Pferde - ein Weg zur Heilung" über seine Erfahrungen bei seinen
Patienten mit einer krankengymnastischen Behandlung mit und auf dem Pferd. Zahlreiche
Veröffentlichungen von Therapeuten und Ärzten über eine Physiotherapie verschiedener
Leiden und Behinderungen mittels des Pferdes folgten bis auf den heutigen Tag und liessen
das oben erwähnte Literaturverzeichnis in der dargestellten Weise anwachsen.
"Mittels des Pferdes" bedeutet hier konkret: mittels der dreidimensionalen
Schwingungen des Pferderumpfes in der Gangart Schritt, die auf den auf dem Pferderücken
sitzenden Patienten übertragen und von dessen Körper aufgenommen werden: Auf und ab, vor
und zurück im Sinne von Beschleunigung und Abbremsen bei jedem Ab- und Auffussen sowie
der Torsion (verschwindende Bewegung des Pferderumpfes bei alternierendem Absinken der
Kruppe) nach rechts/links. Inzwischen ist diese krankengymnastische Behandlungsmethode als
"Hippotherapie" (aus griechisch "Hippos" = Pferd und
"Therapie" = Behandlung) bekannt und anerkannt und wird vielerorts angewendet.
Unabhängig von Krankengymnasten und Ärzten, die - meist aufgrund eigener Erfahrungen als
Reiter - den physiotherapeutischen Wert dieses Bewegtwerdens auf dem Pferd erkannt hatten,
stellten mit geistig und lernbehinderten sowie vor allem verhaltensauffälligen Kinder,
z.T. auch Erwachsenen, arbeitende Pädagogen und Psychologen fest, dass der Einsatz des
Pferdes als "Erziehungshelfer", nämlich das Reiten und vor allem das
Voltigeuren (Turnübungen, einzeln oder zu mehreren, auf dem Pferd im Schritt oder Galopp)
zu positiven Verhaltensänderungen führen kann. 1969 gab ein engagierter
Sonderschullehrer und Heilpädagoge in einem pädagogischen Fachorgan mit einem Artikel
"Mit Pferde erziehen" gleichsam die "Initialzündung" für die
Entwicklung des Heilpädagogischen Voltigierens und Reitens.
Schon immer hatte es Reiter gegeben, die als Behinderte oder Erkrankte den früher
ausgeübten Reitsport wieder aufnahmen oder gar das Reiten erst nach Eintritt einer
Behinderung erlernten. So entwickelte sich als dritter Teilbereich das Therapeutischen
Reitens der Behindertenreitsport. An vielen Orten wird diese behindertensportliche
Disziplin - bis hin zu Ritten in Wald und Flur und sogar regulären Wettbewerben in
Konkurrenz mit nichtbehinderten Reitern - praktiziert.
Mit den folgenden drei Teilbereichen steht also heute das "Therapeutische
Reiten" - so der als Sammel- oder Oberbegriff verwendete Terminus - im Dienste
behinderter Menschen:
Die Hippotherapie bezeichnet die medizinische Verwendung des Pferdes im Sinne einer
besonderen, ärztlich verordneten und überwachten, von speziell ausgebildeten
Krankengymnast(inn)en mit und auf dem Pferd durchgeführten physiotherapeutischen
Massnahme. Sie ist Bestandteil und Ergänzung eines krankengymnastischen
Behandlungskonzeptes bei bestimmten Erkrankungen und Schädigungen des
Zentralnervensystems (vornehmlich Bewegungsstörungen aufgrund frühkindlicher
Hirnschäden und der Multiplen Sklerose) sowie des Halte-, Stütz- und Bewegungsapparates
und erzielt hier Wirkungen, die sich mit konventionellen krankengymnastischen Methoden
nicht erreichen lassen.
Heilpädagogischen Voltigieren und Reiten stellen Massnahmen dar, die in der Pädagogik
(besonders der Heilpädagogik), der Psychologie und in bestimmten Bereichen der
Psychiatrie Eingang gefunden haben. Von zusätzlich ausgebildeten pädagogischen bzw.
psychologischen Fachkräften durchgeführt, sind sie geeignet, bei verhaltensauffälligen,
lern- und geistigbehinderten Kindern und Jugendlichen, in der Psychotherapie sowie bei
manchen psychiatrischen Krankheitsbildern positive Verhaltensänderungen einzuleiten oder
zu unterstützen. Dank seiner besonderen Eigenschaften als lebendiges Wesen mit hohem
Aufforderungscharakter vermag das Pferd auch hier bei sachgemässem Einsatz häufig
bessere Erfolge zu erzielen als herkömmliche Methoden.
Behindertenreit- und Voltigiersport erweitert das Angebot sportlicher Aktivitäten in
einer Richtung, die noch vor wenigen Jahren - abgesehen von den oben erwähnten Ausnahmen
- nur Nichtbehinderten zugänglich war. Es hat sich jedoch gezeigt, dass viele körper-,
geistig- und sinnesbehinderte Menschen durchaus in der Lage sind, das Reiten zu erlernen
und sich reitsportlich zu betätigen. Auch der Gehbehinderte und an den Rollstuhl
Gefesselte gewinnt so "vier gesunde Beine", auf denen er sich frei bewegen kann.
Dem blinden Reiter hilft das Pferd mit seinen Augen. Im Gesamtrahmen des Behindertensports
zählt das Reiten zu den wenigen Disziplinen, die Behinderte in voller Integration mit
Nichtbehinderten ausüben können.-
In allen drei Bereichen des Therapeutischen Reitens wird von den Verantwortlichen also
eine spezielle Qualifikation verlangt. Diese Zusatzausbildung vermittelt, in
Zusammenarbeit mit den jeweiligen Berufs- und Fachverbänden, das 1970 gegründete
Deutsche Kuratorium für Therapeutisches Reiten, das sich in jeder erdenklichen Weise um
die Förderung des Therapeutischen Reitens bemüht, u.a. auch durch die Herausgabe der
Quartalsfachzeitschrift "Therapeutisches Reiten".
Nichts von dem oben Beschriebenen wäre freilich möglich ohne Pferde, die aufgrund ihres
Charakters, ihre Bewegungseigenschaften und ihre Ausbildung für den Einsatz in einem der
Fachbereiche des Therapeutischen Reitens geeignet sein müssen. Die physiotherapeutische,
heilpädagogische und behindertensportliche Verwendung derart ausgewählter Pferde ist
zudem nur dort verantwortbar, wo auch qualifizierte Fachkräfte, erfahrene Helfer und
überdies auch die notwendigen technischen Voraussetzungen (spezielle Ausrüstung des
Pferdes, geschlossene Reithalle, gegebenenfalls auch behindertengerechte Aufenthalts- und
Sanitärräume usw.) zur Verfügung stehen.
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Informationen:
Deutsches Kuratorium für Therapeutisches Reiten e.V.
Postfach 11 02 65
D-48204 Warendorf
Text: Dr. med. Hajo Riesser |