Qualitätssicherung in der Medizin

7.0 Perspektiven
7.1 Einleitung

Ähnlich wie in Großbritannien wird sich demnächst auch in Deutschland kein Krankenhaus mehr gegenüber einer Qualitätssicherung verschließen können. Letztlich kommt es jetzt darauf an, eine funktionsfähige Qualitätssicherung intern zu implementieren, bevor dies auf externe Veranlassung hin geschieht, was zumindest einen gewissen zeitlichen Vorsprung und eine Autonomie in Ausgestaltung und Durchführung der QS-Maßnahmen sichert.

Dies setzt die Schaffung von Strukturen und Instrumenten voraus, mit deren Hilfe eine Qualitätssicherung schnell und effizient initiiert werden kann. Hierbei ist darauf zu achten, diese Organe im Sinne einer 'lean production' möglichst schlank und flexibel anzulegen und einer Überfrachtung oder Überorganisation von vorneherein wirksam entgegenzutreten.

Im Idealfalle genügen drei Strukturen, auf die sich Kompetenz, Verantwortung und Durchführung der Maßnahmen verteilen:

a) Fachkonferenz / Expertenrat - Qualitätslenkung

Dieser Ausschuß muß einen fachlichen Konsensus herbeiführen können, um solchermaßen Standards, Normen und Richtlinien zu erarbeiten.

b) Organisation - Qualitätscontrolling

Diese Stelle muß Projekte organisatorisch und wissenschaftlich unterstützen können, sie ist darüber hinaus für die Durchführung von Schulungen verantwortlich.

c) Arbeitsgruppen - Qualitätszirkel

Arbeitsgruppen realisieren vor Ort Projekte, sie sind zudem Ansprechpartner für Qualitätsprobleme und Vorschläge.

Hinsichtlich der Werkzeuge, die für eine Qualitätssicherung im medizinischen Bereich eine besondere Beachtung verdienen, seien auf den folgenden Seiten zwei unterschiedliche Konzepte vorgestellt:

1. Das Medical Audit nach Lembcke

2. Die Tracer-Methode nach Kessner.

7.2 Medical Audit

Das englische Verbum 'to audit', abgeleitet vom lateinischen 'audire-hören', geht zurück auf das 16. Jahrhundert. Nach dem Oxford English Dictionary wurde es bereits zu dieser Zeit verwendet, um eine offizielle, zahlenbasierte und systematische Untersuchung im Sinne einer Rechnungsprüfung zu beschreiben.

Eine Übersetzung des Wortes ins deutsche fällt nicht ganz leicht, da Audit mehrere Bedeutungen haben kann:

Bestandsaufnahme, Hinterfragung, Revision oder - im medizinischen Sinne - klinische Bilanz.

Nach DIN-Norm lautet die Definition des Qualitätsaudit:


Beurteilung der Wirksamkeit des Qualitätssicherungssystems oder seiner Elemente


Prinzipiell werden drei Audit-Arten unterschieden, man spricht je nach Bezug und Hauptaufgabe von

  • Systemaudit
  • Verfahrensaudit
  • Produktaudit.

Der Ablauf eines Audits ist - unabhängig von der zu untersuchenden Größe - strikt formalisiert und in drei Phasen unterteilt.

Systemaudits stellen ab auf eine Zertifizierung des Qualitätssicherungssystems, zumeist durch externe Organisationen oder Behörden.

Verfahrensaudits untersuchen Arbeitsabläufe (Fertigung, Dienstleistungen) auf Sicherheit, Qualitätsfähigkeit und Zulässigkeit der Methoden, Mitarbeiter oder Mittel für den Arbeitsvorgang.

Produkt- oder Ergebnisaudits zielen ab auf stichprobenartige Untersuchungen auf Übereinstimmung mit den vorgegebenen Standards oder Normen. Hieraus lassen sich Qualitätstrends ablesen.

Von zentralem Interesse ist für die Medizin sicherlich das kombinierte Verfahrens- Ergebnis-Audit, welches im amerikanischen und englischen Gesundheitssystem einen sehr hohen Stellenwert einnimmt.

Beispiele der Vorgehensweise eines medizinischen Audits:

Ein Gremium aus drei bis fünf Fachärzten (peer group) eines Hauses untersucht monatlich stichprobenartig eine Anzahl n von Krankenakten auf Vollständigkeit, Schlüssigkeit und Richtigkeit der angewendeten pflegerischen, ärztlichen und sonstigen Tätigkeiten unter Berücksichtigung der Sachkenntnislage während des Aufenthaltes.

Hierbei werden Diagnosen und Therapien überprüft, die Liegezeiten kontrolliert, der Medikamentenverbrauch überprüft, die Länge der gegebenen Medikation usw. gemäß eines Ablaufplanes gecheckt. Um Voreingenommenheit auszuschließen sind die Daten des behandelnden Arztes der Station zu anonymisieren. Kann dies nicht realisiert werden, ist die peer review durch Ärzte desselben Fachgebietes (oder eines verwandten Faches) aus einem anderen Hause vorzunehmen (wechselseitige peer reviews).

Werden keine Verfahrensfehler aufgedeckt, so kann die Akte direkt zurück ins Archiv. Bei kleineren Fehlern sind diese für den nächsten öffentlichen Auditbericht im Rahmen einer ohnehin stattfindenden Frühbesprechung zu vermerken. Bei gravierenden Fehlern ist gegebenenfalls die Einberufung einer früheren Berichterstattung vor dem Plenum zu erwägen.

Das Gremium muß

a) analysieren, wie es zu einem Fehler oder Mangel kommen konnte

(Behandelnde Personen ? Therapie ? Patient ? Krankheitsbild ? )

b) Vorschläge vorbereiten, wie dieser Fehler künftig zu vermeiden ist.

Ziel des Audit ist nicht die Sanktion, sondern das Lernen aus Fehlern. Die Ergebnisse sind kurz und knapp darzustellen (20 Minuten) und zu protokollieren. Eine Anzahl von 1 Akte / Woche / Arzt scheint als normales Pensum bewältigbar.

Gegenüber der im nächsten Abschnitt erläuterten Tracer-Methode bietet dieses Verfahren den Vorteil, auch bei komplexen Verläufen mit Multimorbidität oder hohem individuellen Risikoprofil des Patienten stabil zu funktionieren. Damit dürfte das Qualitätsaudit auch für die sogenannten "schwierigen" Fächer, in denen sich bislang keine Qualitätssicherung hat etablieren können (Innere Medizin), als praktikable Vorgehensweise in Betracht kommen.

Als mögliches Procedere für ein Audit schlägt der Autor vor, ein Raster für die Aufspürung von Fehlerquellen aus einer Umkehrformulierung der Fehlerursachensystematik nach Gross abzuleiten. Dieses müßte bei Übernahme des Verfahrens durch die verschiedenen Fachbereiche entsprechend den jeweiligen Schwerpunkten adaptiert werden.


Tabelle 1: Häufige Ursachen suboptimaler medizinischer Behandlung

(modifiziert nach Literaturangaben von R. Gross und R. Fischer)

behandlungsseitig patientenseitig
1. Unkenntnis Zu kurzer Krankenhausaufenthalt
Übernahme von Entscheidungen, für die keine hinreichende Kompetenz besteht (Tod), selbstgewollte Entlassung, so daß wichtige Befunde nicht erhoben werden können
2. Zeitmangel und Hast Verweigerung der Erkrankten
Unterlassung belastender Untersuchungen bei reduziertem AZ,  
Vorrang symptomatischer Therapie gegenüber Diagnostik  
3. Unterlassung von indizierten Untersuchungen Atypischer oder oligosymptomatischer Verlauf
4. Unzureichende Untersuchungstechnik Überlagerung der Diagnose durch Zweiterkrankung, wechselseitige Interferenzen
5. Falsche oder unlogische Befundkombination, falsche Schlußfolgerung - Finalstadium oder komplikationsbeherrschtes Krankheitsgeschehen
6. Vorschnelle Urteile Mitigierung des typischen Krankheitsbildes (Senium, Kinder)
7. Unkritische Übernahme von Vordiagnostische Maßnahmen im Hinblick auf fehlende therapeutische Konsequenzen Bewußter Verzicht auf weiterführende Diagnosen und Vorbefunde

Tabelle 1 Häufige Ursachen suboptimaler medizinischer Behandlung

Als weitere Anhaltspunkte für ein Krankengeschichten-basiertes Verfahrensaudit bieten sich darüber hinaus die in der Literatur verschiedentlich zitierten Listen über- und unterdiagnostizierter Erkrankungen an.

Bei der Durchführung von Audits entstehen - nach kurzer Eingewöhnungsphase - in der Regel keine außergewöhnlichen Belastungen, die einen personellen Mehrbedarf rechtfertigen. Audits bedeuten im Grunde nur eine Reorganisation der ohnehin stattfindenden Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen in Form von Frühbe- sprechungen und Kurzvorträgen. Die offene Thematisierung von tabuisierten Begriffen wie 'Behandlungsfehler' oder 'fachliche Unkenntnis', erst möglich im Schutze der Anonymität, verleiht dieser QS-Methode eine hohe Effektivität.


Tabelle 2: In ihrer Häufigkeit über- und unterschätzte Erkrankungen ( modifiziert nach W. C. Matousek)


Organ/System zu häufig diagnostiziert zu selten diagnostiziert
Atemorgane Chron. Bronchitis Lungenembolie, Pneumonie, Lungeninfarkt
Augen/HNO Sinusitis Glaukom
Bewegungsapparat Arthrose, Arthritis Gicht
Blut Eisenmangelanämie Anaemia perniziosa, Infekt-, Tumoranämie, Endokrinium
Hypothyreose Hyperthyreose
Haut Mykosen Kontaktdermatitis, Arzneimittelexanthem
Herz Angina pectoris Pericarderguß, Konstriktive Pericarditis
Neurologie Gen. Epilepsie Multiple Sklerose
Uro-Genital / Niere Cystitis Pyelonephritis
Verdauung Infekte (parasitär, bakteriell, viral) Chron. Pancreatitis, Pancreaskarzinom

Tabelle 2: In ihrer Häufigkeit über- und unterschätzte Erkrankungen

Audits zählen zu den erprobtesten modernen Qualitätssicherungsmethoden in der Medizin, sie werden seit über 20 Jahren mit Erfolg in den USA durchgeführt und stellen dort eine Bereicherung im Hinblick auf die Sicherung der Ausbildungs- und Verfahrensqualität dar. Es stehen hervorragende Audit-Handbücher für nahezu jeden Fachbereich der Medizin zur Verfügung.

7.3 Tracer-Methode

Für einige Bereiche der Medizin kann sich die Tracer-Methode als sinnvolles, ergänzendes Instrument der Qualitätssicherung erweisen. Die Tracer-Methode geht auf D. Kessner und Mitarbeiter zurück, sie wurde in den 70er Jahren in den USA entwickelt.

Tracer oder Leitmerkmale sind dabei in der Regel spezifische Gesundheitsprobleme oder Diagnosen, die eine Beurteilung der Stärken und Schwächen der jeweilig adoperierten Versorgungsmaßnahmen erlauben. Kessner zeigte auf, daß der Methode vorwiegend in den operativen Fächern eine besondere Bedeutung zukommen könnte.

Schon seinerzeit verwies der Methodenbegründer und Erstautor auf die Wichtigkeit der Kriterienauswahl als Voraussetzung für die Bestimmung eines geeigneten Tracers, er warnte zudem vor einem Methodeneinsatz in uneingeschränktem Umfang.

Maßgebliche Grundlage der Tracer-Kriterien bilden folgende Überlegungen:

- Tracer sollten funktionelle Einflüsse ausüben

- Tracer müssen leicht diagnostizierbar und gut definierbar sein

- Tracer sollten hinlänglich bekannt sein, um retrospektiv statistische Arbeiten zur Verteilung in der Bevölkerung zu ermöglichen

- Tracer sollten unter qualitativem Aspekt definierbar sein

- Das Tracer-Problem sollte hinreichend frequent auftreten

- Die medizinische Behandlung sollte den üblichen Praktiken entsprechen

- Behandlungsmethoden sollten für wenigstens eines der folgenden Verfahren definiert sein: Vorsorge, Diagnose, Behandlung, Rehabilitation

- Berücksichtigung der nicht-medizinischen Faktoren im Hinblick auf Unabhängigkeit des Leistungsgeschehens und Tracer-Stabilität

Wurden gemäß obigen Kriterien geeignete Tracer-Bedingungen ermittelt, sind für jeden Fall Minimalkriterien zu erstellen. Diese müssen die wesentlichen Elemente der Krankheitsgeschichte, Diagnostik, Therapie umfassen. Zutreffende Krankheitsgeschichten sind anhand dieser Kriterien auszuwerten, um solchermaßen Qualität von Diagnose und Therapie zu bestimmen. Kessner glaubt, daß diese Methode auch zur Erfassung von nicht-ärztlichen Problemen der Krankheitsversorgung geeignet ist.

Im ursprünglichen Programm - 'A strategy for Evaluating Health Services'- stellten Kessner et al. sechs beispielhafte Diagnosen als Tracer vor: Otitis media, Anämie, Arterieller Hypertonus, Harnwegsinfektionen, Uterus-Ca und Sehschwäche.

Seit Mitte der 70er Jahre wurde die Tracer-Methode - vornehmlich im Rahmen chirurgischer Pilotstudien - auch in Deutschland mehrfach angewendet. Als typische Tracer-Diagnosen finden sich in der deutschen Literatur beispielsweise Leistenbruch (allgemeine Chirurgie), Oberschenkelhalsfraktur (Unfallchirurgie) oder Appendizitis, Cholelithiasis und Colon-Ca (Bauchchirurgie).

Hierbei erwiesen sich

- Diagnostik

- OP-Verfahren

- OP-Befunde

- Intra-OP-Diagnostik

- Risikofaktoren

- Komplikationen

als wesentliche Qualitätsmerkmale, die mittels der Tracer-Methode in den operativen Fächern abgedeckt werden konnten. Die krankenhausinternen Fragebögen wurden zudem durch einen Patientenbericht ergänzt.

Als weitere, mögliche Einsatzbereiche der Tracer-Methode kann eine Reihe von Krankheitsbildern oder Problem-Management-Situationen aus Versorgung und Pflege genannt werden:

- Myocardinfarkt

- Pneumonien

- Intensivmedizinische Versorgung

- Relevanz der OP-Indikationsstellung

- Antibiotika-Therapie

- Eigenblut- und Fremdblutgabe

- Prä- und post-operative anästhesiologische Versorgung

- Dekubitusprophylaxe

Tracer-Methoden lassen sich in die aktuelle Basisdokumentation üblicherweise gut integrieren. In vielen Fällen können Tracer auch schrittweise als Erweiterung der bestehenden Basisdokumentation implementiert werden. Hierbei erfolgt eine Ergänzung um einige, wenige Items in der Vorphase, was zumeist bereits einen Aufschluß über Durchführbarkeit und zu erwartenden Zielerreichungsgrad zuläßt. Die zusätzliche Dokumentation der Qualitätsleitprobleme durch Beobachtung des Leistungsgeschehens wird nach und nach ergänzt, wobei auch Ergebnisse aus Patienten- und Personalbefragung in die Fragebogenstruktur miteinbezogen werden sollten.

Die Verflechtung mit der bestehenden Basisdokumentation - gemeinsam mit der häufigeren Revision der Erhebungsbögen und den periodisch erforderlichen statistischen Auswertungen - legen nahe, ein Tracer-Konzept von vorneherein EDV-gerecht unter Berücksichtigung des bestehenden Krankenhausinformationssystems auszulegen.

Beispielhafte KIS-Tracer-Audit-Implementationen wurden in Großbritannien Mitte der 80er Jahre erstmalig erprobt (Royal Hampshire County Hospital, Winchester; Ipswich Hospital; Huddersfield Royal Infirmery; Queen Elisabeth Hospital, Central Birmingham). Hieraus abgeleitete Routine-Verfahren haben sich seither in zahlreichen britischen Krankenhäusern etablieren können.


1.0 Einleitung 2.0 Qualität 3.0 Qualitätssicherung
4.0 Ursachen und Gründe 5.0 Systemaufbau 6.0 Europäische Ansätze
7.0 Perspektiven 8.0 Einführung eines QS-Systems 9.0 Historischer Abriß
10.0 Literatur
 

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