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Pressemitteilung 20.10.1999 |
Deutscher
Schmerzkongress
20.-24. Oktober 1999, München
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Schmerz: Was Kinder von ihren Eltern erben und lernen
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Vererbung
und Lernen spielen eine wichtige Rolle. |
Gene entscheiden offenkundig mit darüber, wie
schmerzempfindlich ein Mensch ist oder ob er eine Migräne entwickeln kann. Doch das Erbe
alleine entscheidet nicht alles: Bei Schmerzen spielen auch Lernprozesse eine Rolle.
Kinder von Schmerzpatienten haben zwar kein höheres Risiko als andere Kinder, unter
wiederkehrenden Schmerzen zu leiden. Doch wenn sie Schmerzen haben, leiden sie länger als
andere Kinder. Dies berichten Berliner Wissenschaftlerinnen auf dem Deutschen
Schmerzkongress in München. |
Menschen,
die eine geringere Anzahl von Opiatrezeptoren haben, sind schmerzempfindlicher. |
Wie schmerzempfindlich ein Mensch ist, hängt auch davon ab,
welche Variation eines bestimmten Gens er geerbt hat. In diesem ,,Erbstück" ist die
Bauanleitung für einen bestimmten Opiatrezeptor (,,Mu-Rezeptor") verschlüsselt, die
Bindungsstelle auf Neuronen für körpereigene Schmerzhemmer (Endorphine) und starke
Schmerzmittel (Opiate). Je nachdem, welche Variante ein Mensch geerbt hat, reagiert er auf
schmerzhafte Reize. Menschen, die weniger Opiatrezeptoren produzieren als andere, sind
schmerzempfindlicher. ,,Diese Befunde könnten auch erklären", so Privatdozent Dr.
Thomas Tölle, Neurologe am Klinikum rechts der Isar der TU München, ,,warum manche
Patienten Schmerzmedikamente in höheren Dosen benötigen." |
Genetische Einflüsse bei der Migräne. |
Wenn Menschen unter Migräne leiden, haben deren Verwandte ein um
1,9-fach höheres Risiko als andere, ebenfalls unter Migräne zu leiden. Um den Faktor
vier erhöht sich das Risiko, wenn den Schmerzattacken neurologische Ausfallserscheinungen
vorausgehen, die sogenannte Aura. Die Gene entscheiden - zumindest zur Hälfte - mit
darüber, ob Menschen zu Migränikern werden. Dies belegen vor allem Zwillingsstudien:
Umwelt und mehrere Erbfaktoren sind zu jeweils 50 Prozent beteiligt. ,,Dies bedeutet, dass
die Migräne keine ,eingebildete Krankheit' von Hysterikern und Neurotikern ist, sondern
ein Leiden mit neurobiologischer Grundlage", stellt Professor Andreas Straube fest,
Neurologe am Münchener Universitätsklinikum Großhadern. Dies ermögliche den Patienten
den Weg zu einem rationalen Verständnis ihrer Erkrankung. |
Erkenntnisse
haben Konsequenzen für die Behandlung. |
Für die Diagnostik haben derartige Erkenntnisse zwar keine
Konsequenzen, wohl aber langfristig für die Behandlung. Denn bei einer besonderen Form
der Migräne, der sogenannten familiär- hemiplegischen Migräne, wissen die Forscher
inzwischen, dass ein bestimmtes Gen auf dem Chromosom Nummer 19 verändert ist. Die Folge
ist eine besonders schwere Form der Migräne: Attacken können mit einer
Halbseitenlähmung und Bewußtseinsstörungen einhergehen. Zusätzlich haben die
betroffenen Menschen aber auch noch ,,normale" Migräneattacken. Ob derartige
genetische Veränderungen auch bei der ,,normalen" Migräne eine Rolle spielen, ist
bislang allerdings noch unklar. |
Veränderungen
im Calcium-Kanal können schwere Migräne verursachen. |
Doch die Forscher wissen, welche Funktion das betroffene Gen hat.
Es enthält Teile der Bauanleitung für einen so genannten Calcium-Kanal, ein ,,Tor zur
Zelle", durch das Calcium-Ionen einströmen können. Wie Veränderungen bei diesem
Kanal schwere Migräneattacken verursachen können, ist indes noch unklar. ,,Die Funktion
dieser Kanäle", erklärt Straube, ,,wird auch von äußeren Faktoren beeinflusst,
etwa dem Säure-Base-Haushalt. Gleichwohl hoffen die Wissenschaftler, dass derartige
Erkenntnisse die Entwicklung von Medikamenten voranbringen, die gezielt in diesen
Mechanismus eingreifen können. |
Mythos ,,Schmerzpersönlichkeit". |
,,Eine ,Schmerzpersönlichkeit' gibt es nicht", stellt
Professor Birgit Kröner-Herwig von der Universität Göttingen kategorisch fest. Es gibt
demnach weder ,,Charakterzüge" noch andere psychische Merkmale, die einen Menschen
dazu prädisponieren, ein Schmerzsyndrom zu entwickeln. Gleichwohl haben psychologische
Faktoren, etwa die persönliche Verarbeitung der Schmerzsituation' eine grosse Bedeutung
bei der Ausbildung eines Schmerzsyndroms. ,,Diese psychischen Faktoren haben - so scheint
es oft - sogar eine weitaus größere Bedeutung für die Chronifizierung als körperliche
Faktoren." Doch die moderne Persönlichkeitstheorie geht nicht von unveränderlichen
Merkmalen aus, die das Verhalten und Erleben von ,kranken' Personen bestimmen, sondern von
einer Interaktion von Person und Situation. ,,Darum kommt es darauf an", so
Kröner-Herwig, ,,dass in der Forschung diese Interaktion im Prozess der
Krankheitsentwicklung stärker berücksichtigt wird." |
Familie und Schmerz. |
Beim chronischen Schmerzsyndrom spielen auch Lernprozesse eine
Rolle. Wie Schmerzmodelle in der Familie weitergegeben werden, untersuchten die
Psychologinnen Dr. Christiane Herrmann und Professor Herta Flor von der Berliner
Humboldt-Universität. ,,Unser Ziel war es," so die beiden Schmerzforscherinnen,
,,herauszufinden, ob Kinder von Schmerzpatienten vermehrt unter körperlichen Beschwerden
und Schmerzen leiden." Dazu befragten sie erstmals langjährige Schmerzpatienten und
ihre Kinder sowie gesunde Eltern und deren Kinder. Die Fragebögen umfassen den Umgang mit
Schmerz vom aktiven Bewältigen (,,Ich schaffe das schon!") bis zum Katastrofisieren
("Diesen Schmerz halte ich nicht mehr aus!"). Ebenso erkundeten die
Forscherinnen Strategien zur Schmerzüberwindung und ermittelten die Schmerzstärke und
Beeinträchtigung des Befindens. |
Wenn Kinder von Schmerzpatienten Schmerzen haben, leiden sie
länger. |
Die beiden Wissenschaftlerinnen fanden keine Unterschiede
in der Art der Beschwerden zwischen Kindern von gesunden Eltern und Kindern von
Schmerzpatienten. Allerdings gestaltete sich ein Krankheitsverlauf bei letzteren bedeutend
langwieriger. Weiterhin war bei Eltern aus Schmerzfamilien und demnach auch bei ihren
Kindern negatives Denken, z. B. Katastrofisieren sehr viel ausgeprägter. Diese Kinder
gaben auch verstärkt körperliche Beschwerden an, wenn der Elternteil in höherem Maße
unter den Schmerzen litt und sich beeinträchtigt fühlte. Ebenso war dies der Fall, wenn
Mutter oder Vater depressiv gestimmt waren, und sich vom gesunden Elternteil intensiv
unterstützen ließen. |
Die
Einstellung zum Schmerz wird innerhalb der Familie weitergegeben. |
Darüber hinaus konnten die Forscherinnen beobachten, dass Krankheitsepisoden bei
den Kindern von Schmerzpatienten um so häufiger und länger waren, je weniger der
betroffene Elternteil seine Lebenssituation im Griff hatte und wenig Zuversicht zeigte,
trotz der Schmerzen die Alltagsangelegenheiten verrichten zu können. ,,Die
Ergebnisse", so Hermann, ,,legen den Schluß nahe, dass die Einstellung zum Schmerz
durch Lernen am Modell innerhalb der Familie weitergegeben wird." |
Geringere
Schmerzschwelle bei anwesendem Partner. |
Auch das Verhalten der Partner spielt bei Schmerzen eine Rolle.
Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass Schmerzen intensiver empfunden werden, wenn ein
,,besorgter" Partner anwesend ist. Die Berliner Psychologen beobachteten bereits vor
einigen Jahren, dass die Schmerzschwelle im so genannten Eiswasser-Schmerztest sinkt, wenn
ein ,,besorgter" Partner anwesend ist. |
Schmerzpatienten brauchen emotionale Unterstützung und weniger
Entlastung. |
Doch aus derartigen Befunden den Schluss zu ziehen, dass jede Form familiärer
oder partnerschaftlicher Unterstützung für Patienten mit chronischen Schmerzen eher
ungünstig ist und Schmerzverhalten fördere, wäre falsch. ,,Entscheidend", so die
Berliner Forscherinnen, ,,ist vielmehr die Art der Unterstützung." Wenn der Partner
ausschließlich Aufgaben des Schmerzpatienten übernimmt und diesen zur körperlichen
Schonung auffordert, geht dies mit einem deutlich verstärkten Schmerzverhalten einher.
Solche Formen der Zuwendung können Schmerzverhaltensweisen ungünstig verstärken und
halten die betroffenen Patienten davon ab, günstige Aktivitäten aufzubauen. ,,Eine
allgemeine emotionale Unterstützung und Hilfe bei der Lösung krankheitsbedingter
Probleme sind hingegen förderlich für die Behandlung und den weiteren Verlauf der
Erkrankung", stellen die Psychologinnen fest. |
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Rückfragen an:
PD Dr. med. Dr. rer. nat. Thomas R. Tölle
Neurologische Klinik
Technische Universität München
Klinikum rechts der Isar
Möhlstraße 28
1675 München
Tel.: 089-4140-4658
Fax: 089-4140-4659
e-mail: dgss99@lrz.tu-muenchen.deDr. Christiane Hermann
Institut für Psychologie
Humboldt Universität
Hausvogteiplatz 5-7
10117 Berlin
Tel.: 030-20246-837
Fax 030-20246-808
e-mail: christiane.hermann@rz.hu-berlin.de
Prof. Dr. Andreas Straube
Oberarzt der Neurologischen Klinik
Klinikum Großhadern
Marchioninistraße 15
81377 München
Tel.: 089-7095-3901
Fax: 089-7095-3677
e-mail: astraube@gnf99m.nefo.med.uni-muenchen.de
Prof. Dr. phil. Birgit Kröner-Herwig
Georg-August-Universität Göttingen
Georg-Elias-Müller-Institut für Psychologie
Abt.: Klinische Psychologie und Psychotherapie
Goßlerstraße 14
37073 Göttingen
Tel.: 0551-39-3582/81
Fax.: 0551-39-3544
e-mail: bkroene@uni-goettingen.de
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