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Deutscher Schmerzkongress 2001
03. - 07. Oktober in Berlin |
Pressemitteilung Nr. 7 04. Oktober 2001 |
Dauerschmerz: Chronifizierungsfaktor Therapeut und Gesundheitswesen
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(Berlin) Ärzte und Psychologen können ohne es zu wollen bei
Schmerzen die Chronifizierung verstärken: Fehler in der Diagnostik haben Fehler in der
Therapie zur Folge. Experten kritisieren auf dem Deutschen Schmerzkongress auch Defizite
in der Kommunikation zwischen Therapeuten und Patienten, die Leiden verstärken anstatt
sie zu lindern.
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Hohe Dunkelziffer von Schädigungen durch ärztliche Fehler.
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"Wahrscheinlich ist die Dunkelziffer indirekter arztbedingter
Schäden in der Schmerztherapie wesentlich höher als vielfach angenommen wird, auch wenn
sich dies durch Studien nicht belegen lässt", erklärt Priv. Doz. Dr. Michael
Strumpf von der Klinik für Anaesthesiologie der Universität Bochum. Die klinische
Erfahrung zeige jedoch, dass eine unzureichende Befunderhebung (Anamnese) ohne
Berücksichtigung psychologischer Aspekte und eine lückenhafte Diagnostik nur durch eine
medizinische Disziplin häufig zu einer falschen Therapie führen. "Werden bestehende
Therapiekonzepte nicht eingehalten und bleiben aktuelle Leitlinien unberücksichtigt,
verstärkt der behandelnde Schmerztherapeut die Chronifizierung seiner Patienten",
betont Strumpf. Unter diesen Gesichtspunkten sei die grundsätzliche Gefährdung der
Patienten durch die diagnostische und daraus abgeleitete therapeutische Herangehensweise
des einzelnen Arztes oder Psychotherapeuten möglicherweise größer als durch Medikamente
oder invasive Verfahren. |
Auch das Gesundheitssystem hat Anteil an der Chronifizierung von
Schmerzen.
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Dass in der Tat neben körperlichen und seelischen Faktoren der
Patienten auch die Bedingungen des Gesundheitssystems sowie das ärztliche Verhalten
Chronifizierungsprozesse bei Schmerzen beeinflussen, zeigt eine Untersuchung in England,
über die Priv. Doz. Dr. Michael Pfingsten von der Universitätsklinik Göttingen
berichtet: Am King´s College School of Medicine in London haben Ärzte die
Behandlungsverläufe bei 125 Patienten aus zwei Londoner Schmerzkliniken ausführlich
untersucht, sowie ihre Krankheitsgeschichte und den Behandlungsverlauf sorgfältig
analysiert. Dabei identifizierten die Wissenschaftler vier Problembereiche so genannter
iatrogener Faktoren, also schädigender Einflüsse, die aus dem ärztlichen Verhalten und
Nicht-Verhalten resultieren: |
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a) Überdiagnostik (z.B. zu spezifische Diagnostik bei unspezifischen Beschwerden)
b) Informationsmängel (z.B. zu häufiger Rat zur körperlichen Schonung mit
nach-folgender körperlicher Dekonditionierung der Patienten)
c) Fehler bei der Medikation (z.B. zu viele Medikamente, Kombinationsanalgetika, zu
wenig Kommunikation unter ärztlichen Kollegen, keine ausreichende Information über
Dosierung und Einnahme), und
d) ungenügende Berücksichtigung psychosozialer Randbedingungen und psychologischer
Einflussfaktoren (Bedürfnisse bei Ärzten und Patienten, die Schmerzen ausschließlich
mit körperlichen Faktoren zu erklären).
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Leitlinien fehlen
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"Derartige Qualitätsmängel in der Versorgung", so Pfingsten,
"haben auch damit zu tun, dass zur Behandlung etlicher Schmerzsyndrome Leitlinien
immer noch fehlen oder unpräzise sind." |
Kommunikation spielt eine große Rolle.
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Wie wichtig die Kommunikation zwischen Arzt und Patient ist, betont Dr.
Paul Nilges, leitender Psychologe am DRK-Schmerzzentrum in Mainz. "Für Erfolge und
Misserfolge von Schmerzbehandlungen spielen unspezifische oder Beziehungsfaktoren nicht
selten eine größere Rolle als spezifische Wirkmechanismen therapeutischer
Verfahren." So seien Informationen, die Patienten erhalten, Äußerungen der
Behandler zu Schmerzursachen, zur Prognose, Hinweise auf den Umgang mit den Beschwerden
und Tipps zum Verhalten bei Rückfällen wesentliche und oft vernachlässigte Kernpunkte
der Therapie. |
Eine freundliche Atmosphäre wirkt schmerzreduzierend.
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Nilges: "Während beispielsweise zu Beginn eines Schmerzproblems
beruhigende Informationen sinnvoll sind und meist positiv bewertet werden, kann die kurze
Mitteilung unauffälliger Untersuchungsbefunde bei Patienten mit zahlreichen
Voruntersuchungen und behandlungen als "schlechte Nachricht" gelten,
Enttäuschung und Ärger provozieren und letztlich für den Patienten ungünstige
Auswirkungen haben. Mit einem Satz wie "Ich kann nichts finden, Sie haben
nichts....." werde die Realität der Schmerzwahrnehmung direkt in Frage gestellt.
"Haben Patienten sehr einfache Vorstellungen über Ursachen und Entstehung
chronischer Schmerzen und haben sie bereits einige Diagnostik hinter sich, dann ist diese
Form der Interaktion entweder ein glatter Kunstfehler oder eine wenig elegant Art,
schwierige Patienten loszuwerden", kritisiert Nilges. Je unsicherer sich Behandler
fühlen, desto schwieriger sei es wiederum, akzeptierend und freundlich auf Patienten zu
reagieren. Eine akzeptierende und freundliche Atmosphäre wirkt sich jedoch positiv auf
eine unmittelbare Schmerzreduktion aus, wie Studien belegen. |
Auch gestörte Funktionen in den Erklärungsrahmen einbeziehen.
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Wenn tatsächlich keine direkten körperlichen Ursachen diagnostizierbar
sind, müsse "der Erklärungsrahmen erweitert werden", sagt Nilges. Denn
mitunter lassen sich Schmerzen weniger durch pathologische Einzelbefunde als vielmehr
durch gestörte Funktionen, etwa im Zusammenspiel von Muskulatur, Gelenken und Gefäßen
erklären. Auch seelische Einflüsse müssen angesprochen werden. Wichtig ist es auch, an
einer generellen Verbesserung der Schmerztoleranz durch angemessene Steigerung von
Belastung und Aktivität und insgesamt der körperlichen Fitness zu arbeiten. |
Lebensqualität trotz Schmerz verbessern.
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Nicht nur die Diagnose, sondern auch die Prognose ist für Patienten
wichtig. "Ziel muss es sein", betont Nilges, "Entwicklungsmöglichkeiten
und Selbsthilfemaßnahmen aufzuzeigen, beispielsweise bei Kopf- und Rückenschmerzen. Denn
selbst wenn Knorpelschäden im Knie festgestellt wurden, ist damit keine zwangsweise
Invalidität verbunden. Darum muss der Therapierahmen erweitert werden: Schmerzen lassen
sich nicht nur medikamentös lindern. Wichtig sind auch körperliche Aktivität,
Entspannungsverfahren und physiotherapeutischen Behandlungen. Statt auf "die
endgültige und schnelle Lösung" zu hoffen, sei ein wichtiges Ziel, mit dem
Patienten zusammen geduldig nach Möglichkeiten suchen, die Lebensqualität trotz Schmerz
zu verbessern. |
Geduld und eine gute gegenseitige Beziehung sind wichtig.
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Dies erfordert von Therapeut und Patient viel Geduld und eine gute
Beziehung. Nilges: "Ob Patienten auf eine angemessene Informationsvermittlung
aufbauende, sinnvolle Behandlungsvorschläge akzeptieren und etwa Entspannungs- und
Bewegungsübungen tatsächlich langfristig und selbständig durchgeführen, wird von der
Qualität und Tragfähigkeit der ursprünglichen Therapiebeziehung mitbestimmt. |
Auf Rückfälle vorbereitet sein.
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Wichtig ist auch, dass Ärzte ihre Patienten für Rückfälle wappnen.
Denn Schmerzen können, selbst wenn sie zunächst gelindert werden, wieder auftreten.
Nilges: "Auch auf diese Möglichkeit sollte der Arzt hinweisen, damit sich der
Patient darauf einstellen kann und nicht verängstigt wird, wenn dieses geschieht." |
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Rückfragen an:
Dr. Paul Nilges
Leitender Psychologe, DRK-Schmerz-Zentrum
Auf der Steig 14-16, 55131 Mainz
Tel.: 06131-98 85 50,
Fax: 06131-98 87 05
E-mail: nilges@schmerz-zentrum.de
PD Dr. Michael Pfingsten
Schwerpunkt Algesiologie, Zentrum Anaesthesiologie
Klinikum der Georg-August-Universität
Robert-Koch-Str. 40, 37075 Göttingen
Tel.: 0551-398816,
Fax: 0551-394164
E-mail: michael.pfingsten@med.uni-goettingen.de
Priv.-Doz. Dr. med. Michael Strumpf
Universtitäsklinik für Anaesthesiologie,
Klinikum Bergmannsheil Bochum
Bürkle-de-la-Camp-Platz 1, 44789 Bochum
Tel.: 0234-302-6827
Fax: 0234-302-6834
e-mail: strumpf@anaesthesia.de
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