Chronische Schmerzen

 

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Kongressbericht: Deutschen Schmerztag 1999
Forschung als Treibstoff der Schmerztherapie:
Das Schmerzgedächtnis löschen
(s.auch Schmerzgedächtnis bei MedizInfoSchmerzLos und den Bericht vom Deutschen Schmerzkongress 1998) Chronische Schmerzen müssen anders behandelt werden als akute. Denn im Nervensystem muß die Spur der Dauerpein, das tief eingebrannte Schmerzgedächtnis, gelöscht werden. Dazu brauchen Patient und Arzt vor allem viel Geduld und neue Strategien.
s. auch Ehrenpreis für Zieglgänsberger Der Fall ist klassisch: Nach einer Gürtelrose leidet die Patientin unter schwersten chronischen Nervenschmerzen. Die Pein ist dumpf drückend. Zusätzliche Attacken eines grellen Schmerzes zwingen sie bis zu zehnmal täglich, alle Aktivitäten zu unterbrechen. Nacheinander versucht die Kranke, ihre Pein mit den unterschiedlichsten Medikamenten und Maßnahmen in den Griff zu bekommen. Doch nichts scheint ihr helfen zu können.
,,Hier wurde ein entscheidender Fehler schon am Anfang gemacht", kommentiert Professor Walter Zieglgänsberger vom Münchener Max-Planck-Institut für Psychiatrie: Wäre der akute Schmerz sofort ausreichend unterbunden worden, hätte dieser gar nicht erst eine Gedächtnisspur in Gehirn und Rückenmark hinterlassen können." Da diese Behandlung unterblieb, konnte sich aber ,,ein Bild des Schmerzes" fest im Nervensystem der Patientin einbrennen.
Das Nervensystem lernt den Schmerz
Neurone im Rückenmark, die Schmerzimpulse zum Gehirn weiterleiten, werden durch den ständigen Einstrom von Schmerzimpulsen verändert. Was sich dabei in diesen Zellen genau abspielt, haben Grundlagenforscher in den letzten Jahren bis auf die Ebene der Moleküle und der Erbsubstanz DNA hinab untersucht. Das ständige Bombardement mit Schmerzreizen verändert das Muster der genetischen Aktivität der Zellen. Sogenannte Transskriptionsfaktoren, die mit genetischen Schaltern vergleichbar sind, werden mobilisiert und aktivieren ihrerseits eine ganze Kaskade von Genen. Das Resultat: Die Neurone feuern ständig und reagieren überempfindlich. So ,,lernt" das Nervensystem vom Rückenmark bis zum Gehirn den Schmerz, reagiert selbst auf andere Reize mit Schmerzsignalen und die Pein wird chronisch.
Man braucht Geduld, um das Schmerzgedächtnis wieder zu löschen
,,Aufgrund seiner enormen Plastizität", erklärt Zieglgänsberger' ,,kann das Nervensystem jedoch prinzipiell auch wieder vergessen, was es einmal gelernt hat." Das Schmerzgedächtnis müßte demnach auch wieder ,,gelöscht" werden können. Dies ist allerdings nicht einfach: ,,Man kann nicht das fest eingebrannte Bild des Schmerzes im Nervensystem wie mit einem Schwamm einfach von einer Tafel herunterwischen", sagt der Münchener Neurowissenschaftler. Patienten und Ärzte brauchen dazu viel Geduld - und vor allem andere Strategien als beim akuten Schmerz.,,Hier vollzieht sich zur Zeit ein entscheidender Paradigmenwechsel"' so Zieglgänsberger. Ein akuter Schmerz kann binnen weniger Stunden effektiv gelindert werden, dafür ist die Medizin bestens gerüstet. Doch der chronische Schmerz erfaßt den ganzen Menschen, sein Nervensystem hat sich bereits verändert. Mittel, die akute Schmerzen wirksam bekämpfen, sind darum in diesen Fällen nicht immer oder ausschließlich zur Behandlung geeignet. Vielmehr kommt es darauf an, die Weiterleitung und Verarbeitung des Schmerzes sowie verschiedene körpereigene Mechanismen der Schmerzdämpfung mit jeweils unterschiedlichen Medikamenten zu beeinflussen. Darum setzen die Ärzte mittlerweile auch Substanzen ein, die selbst keine direkte schmerzlindernde Wirkung haben, aber etwa die Schmerzverarbeitung im Zentralnervensystem beeinflussen.
Dazu gehören beispielsweise bestimmte Antidepressiva. ,,Früher", erinnert sich der Forscher, ,,wurden diese Mittel ausschließlich eingesetzt, um die Stimmung jener Patienten aufzuhellen, die aufgrund ihrer chronischen Qual depressiv wurden."Inzwischen hat sich herausgestellt, daß einige dieser Medikamente die Schmerzverarbeitung im Gehirn und die neuronale Plastizität beeinflussen.

Die Cannabinoide, Wirkstoffe aus der Hanfpflanze, können die feuernden Nervenzellen ebenso dämpfen wie Opioide, allerdings beeinflussen sie andere Bindungsstellen (Rezeptoren) auf der Oberfläche der Nervenzellen. Substanzen wie Flupirtin und Tolperison wirken wieder anders: Sie aktivieren bzw. hemmen bestimmte lonenkanäle, an denen normalerweise Signale der körpereigenen Schmerzdämpfung angreifen.
,,Durch eine massive Behandlung mit unterschiedlichen Medikamenten, die an verschiedenen Stellen angreifen, aber nicht unbedingt hoch dosiert werden müssen, kann man das Schmerzgedächtnis langsam wieder löschen", erklärt Zieglgänsberger. Oft muß der Arzt dabei zunächst ausprobieren, welche Mittel in welcher Kombination sinnvoll sind - und dies kann dauern.
Diese Strategie hat auch der Patientin mit den schweren Schmerzen nach der Gürtelrose geholfen: Sie nehmen verschiedene Medikamente über mehrere Wochen ein und übte sich in Geduld. Selbst als die Medikamente nicht sofort für Linderung sorgten, nahm sie sie weiter und setzte sie nicht sofort wieder ab. ,,Die Medikamente dämpfen die übererregten Neuronen", erklärt Zieglgänsberger, ,,sie sind ein Vehikel, um die Spur des Schmerzes zu tilgen und die Selbstheilungskräfte zu aktivieren." So verringerte sich allmählich bei der Patientin die Zahl der Schmerzattacken: Sie gingen von zehn bis 15 pro Tag über drei bis auf Null zurück. Gegen den dumpfen Schmerz erhielt sie ein retardiertes Opioid, eine Medikamentenzubereitung, die den Wirkstoff in niedrigen Dosen kontinuierlich freisetzt. ,,Nach einiger Zeit kann man auch diese Medikamente langsam absetzen, um zu prüfen, ob der Schmerz verschwunden ist", sagt Zieglgänsberger.
Schmerzferien machen

Selbst wenn die schmerzhaften Reize, etwa bei chronischen Entzündungen wie der rheumatischen Polyarthritis bestehen bleiben, kann eine massive Schmerztherapie das Schmerzgedächtnis beeinflussen. Zieglgänsberger nennt dies ,,Schmerzferien": Die massive ;13ehandiun~ dämpft die Schmerzverarbeitung und beruhigt das Nervensystem. ,,Die Beschwerden gehen zurück, die Patienten verspüren nach einer solchen Therapie oft für lange Zeit eine deutliche Linderung, selbst wenn sie nicht völlig schmerzfrei werden", erklärt der Neurowissenschaftler. So kann die Behandlung etwas Entscheidendes erreichen: mehr Lebensqualität für Schmerzkranke.
Rückfragen an: Prof. Dr. med. Walter Zieglgänsberger, Max Planck-Institut für Psychiatrie, Kraepelinstraße 2, 80804 München, Tel.: 089 - 30622-350, Fax: 089-30622-402
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